Die Farben der Weihnachtszeit

Als ich noch ein ganz junges Tannenbäumchen war und etwas unförmig und unsicher am Waldrand zwischen meiner Familie stand, wurde ich in der dunklen Jahreszeit ständig von meinen Eltern ermahnt, aufrecht und gerade zu stehen. “Mach dich fein raus und passe auf dein Nadelkleid auf, sonst wirst du eines Tages als alte Jungfer noch ganz alleine hier stehen!“, rief mir meine Mutter zu, während sie gleichzeitig an meinen Zweigen herumzupfte und mich kräftig schüttelte. „ Du tust mir weh. Lasse mich bitte so wachsen, wie ich bin!“, antwortete ich etwas unwirsch. Die Göre wird auch immer frecher. Kein Wunder, dass sie niemand als Weihnachtsbaum haben will!“, ergänzte mein Vater mit einem Unterton einer leichten Verachtung. Dieses typische besorgte Verhalten meiner Eltern wurde in der Vorweihnachtszeit noch schlimmer.

Ich war in der Tat etwas kleinwüchsig geraten, aber mich störte das nicht. Meine gleichaltrigen Geschwister versuchten insbesondere an den schneereichen Tagen im Advent sich durch ein tolles Aussehen in den Vordergrund zu stellen. Das führte gelegentlich so weit, dass meine ältere Schwester mit ihren kräftigen Zweigen bewusst und gewollt die Tannenspitze des jüngsten Bruders verdeckte. Dann stritten sich die beiden so lange, bis sie nur noch unvollständig bekleidet und mit hässlichen, kahlen Stellen stumm dastanden. Das hatten sie nun davon. So etwas würde mir nie passieren!, waren meine Gedanken, als sich die beiden Kontrahenten mit ihren zerzausten Frisuren sah.

Am Tage vor Heiligabend spürte ich eine außergewöhnliche Hektik und Unruhe in meiner Verwandtschaft. Die Damen puderten fast stündlich ihr Gesicht, und die Männer versuchten, aus dem über Nacht frisch gefallenen Schnee auffallende Hüte herzustellen. Ich musste innerlich grinsen, denn ich hätte wirklich nicht gedacht, dass das männliche Geschlecht so eitel sein könnte. Als am frühen Morgen hinter dem Berg die Sonne aufging, um meine noch schlafende Verwandtschaft zu wecken, waren alle so was von herausgeputzt, dass ich vor Staunen gar nicht mehr meinen Mund zubekam. Wie bei einer Parade standen sie da; aufgereiht, gepflegt, eitel und einige Tannen auch sehr selbstbewusst bis arrogant. Die waren jedoch nicht aus unserer direkten Linie, worüber ich sehr froh war. Und ich musste zugeben: Zum Teil sahen die weißgeschmückten und hochgewachsenen Bäume sehr apart aus. Kerzengerader Stamm, gleichmäßig gewachsene Zweige, keine knorrigen Äste und eine absolut tadellose Spitze. Dann schaute ich mich an und schmunzelte über meinen nicht besonders attraktiv wirkenden Zustand.

„Na ja. Das kann ja noch sehr lange dauern, bis sich jemand für mich interessiert und zum Weihnachtsfest diese Krücke mit nach Hause nimmt“, murmelte ich vor mich her.

Als der Tag zu Ende ging, stand ich ganz alleine am Waldrand. Meine Familie und die gesamte Verwandtschaft wurden als Weihnachtsbäume geschlagen und auf einem Lastwagen in die Stadt gebracht.“ Die werden nun über die Dauer des Weihnachtsfestes buntgeschmückt und stolz in den Wohnzimmern der Menschen stehen!“, sinnierte ich dann doch etwas traurig. Als die ersten Sterne hoch am Himmel funkelten und sich der Mond langsam über die schneebedeckten Wiesen schlich, fiel ich in einen tiefen, langen Schlaf. Ich träumte davon, auch endlich einmal ein begehrtes Weihnachtsbäumchen sein zu dürfen. Davon hörte der in der Nähe wohnende Weihnachtsstern, der in der Lage war, ausgesprochen seltene Wünsche von einsamen und traurigen Tannenbäumen zu erfüllen. Schnell rief er die Farben der Weihnachtszeit zusammen, um mit ihnen zu bereden, wie dieses Problem gelöst und gleichzeitig der Wunsch dieser armseligen Tanne wahr gemacht werden könne. Da die Farben seine engsten Freunde waren, konnte er sich eines guten Ergebnisses sicher sein. Heimlich trafen sie sich auf der verzauberten Wiese hinterm Schneeberg. „Wir schmücken sie einfach hier im Wald, dann wird sie schon gesehen!“, rief die Farbe Rot aufgeregt und sauste den Hang hinunter. „Das hat doch keinen Sinn!“, erwiderte die Farbe Blau und kletterte von der Himmelsleiter. „ Das ist doch viel zu spät. Da kommt doch niemand mehr vorbei“, ergänzte sie noch und verkroch sich in die Nacht. „Hat noch irgendjemand eine Idee, wie man dem Bäumchen helfen könnte?“, fragte der Weihnachtsstern schon langsam genervt und schaute verzweifelt in die Runde. „Hört mal alle zu! Soweit ich weiß, symbolisieren insbesondere die Farben Grün und Rot die Weihnachtszeit. Das ist doch richtig, oder?“, dozierte der goldfarbene Engel, der soeben von einer außerirdischen Besprechung zurückgekommen war. „Das stimmt, denn die Farbe Grün symbolisiert bei den Menschen die Hoffnung und die Treue. Außerdem steht sie für die Widerstandskraft gegen die Kälte und den lang anhaltenden Winter. Das sehen wir an den immergrünen Gewächsen wie Buchsbaum, Stechpalme, Eibe oder, oder!“, fügte die Farbe Gelb hinzu.

Grün fühlte sich sehr geschmeichelt und erwiderte stolz: „Danke für die zutreffende Beschreibung meiner Persönlichkeit. Damit wird die Lebenskraft in der Farbe Grün besonders herausgestellt.“ Der silbrig glänzende Weihnachtsstern überlegte kurz und kreiste einmal über die Baumwipfel. Dann sah er sich in der Pflicht, selbst etwas dazu zu sagen. „Da habt ihr vollkommen recht, und die Farbe Rot steht für das Feuer, die Energie und auch für das Blut. Das Wichtigste aber, was die außergewöhnliche Farbe Rot in sich trägt, ist die Liebe. Also passen die Liebe und Hoffnung besonders zur Weihnachtszeit gut zusammen. Außerdem habe ich einen Bruder mit demselben Namen. Der lebt nicht hier oben im Himmel, sondern auf der Erde in einer Gärtnerei, und zur Weihnachtszeit wird er als Topfpflanze überall aufgestellt. Dieser hat übrigens wunderbare knallrote Blüten! „Allerdings war das Problem mit diesem Exkurs in die weihnachtliche Farbenwelt nicht gelöst.

Da mischte sich überraschend die Farbe Weiß ein. „Wahrscheinlich geht ihr davon aus, dass ich im eigentlichen Sinne keine richtige Farbe bin und sowieso nur Schnee oder die weißen Wolken vertrete; aber ich habe einen konkreten Vorschlag zu machen. “Alle Farben schauten sich an und warteten gespannt, was Weiß zu sagen hätte. „Ich kenne in einem kleinen Nachbardorf eine arme Familie mit vielen Kindern, die bis heute noch keinen Weihnachtsbaum haben. Der Vater ist schon lange arbeitslos und die Mutter sehr kränklich. Was haltet ihr davon, wenn wir heimlich den Tannenbaum entführen und ihn in das Wohnzimmer stellen?“, schlug Weiß vor. Alle Farben waren sofort begeistert. „Ja und dann schmücken wir gleich den Baum und bringen so etwas Weihnachtsfreude in diesem Raum!“, jubelte Rot, und der silberfarbene Engel fuhr fort“…und setzte mich oben auf die Spitze!“ Weiß grinste über das ganze Gesicht. „Ich werde mich um die Wärme und Helligkeit kümmern!“, rief die Farbe Gelb aufgeregt dazwischen. „Stellt euch vor, die Familie kommt mit ihren kleinen Kindern in das weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer und sieht dieses prächtige Weihnachtsbäumchen. Die Kerzen flackern an den grünen Zweigen, und ihr Licht spiegelt sich in den bunten Christbaumkugeln wider. Der glitzernde weiße Schnee liegt auf den weit ausladenden Ästen, und der Engel summt von der Spitze des Baumes leise ein Weihnachtslied!“, rief begeistert der Weihnachtsstern. „Damit hätten wir nicht nur die Familie, sondern auch unseren alleinlebenden Tannenbaum glücklich gemacht, oder?“, unterbrach die Farbe Blau die augenblickliche Stille. Alle freuten sich über diese gute Idee. Schnell wurde der Gedanke in die Tat umgesetzt, und in kürzester Zeit vollzogen sich die blitzschnelle Entführung der schlafenden Tanne aus dem Wald, der lautlose Wohnungseinbruch bei der Familie im Nachbardorf und die Begehung eines klassischen Hausfriedensbruches. Am Ende waren die Farben vor Freude gerührt, die ausgewählte Familie hatte Tränen des Glücks in den Augen, und das einsame Tannenbäumchen den schönsten Platz in deren Wohnung.

 

So konnte allen geholfen werden, und seit dieser Zeit ist die Freundschaft der Farben zur Weihnachtszeit noch intensiver geworden. Übrigens wurden die begangenen Straftaten vom hohen Gericht in der Heiligen Nacht entschuldigt, und die Richter begründeten in ihrem Urteil dies damit, dass die durchgeführte spontane und lebenswichtige Hilfe armen Menschen und Tannenbäumen gegenüber solche Taten eindeutig rechtfertigen würden.

Als ich am Heiligen Abend in diesem fremden Wohnzimmer aufwachte und sah, wie meine Zweige weihnachtlich geschmückt waren, war ich dann doch sehr gerührt. Ich schaute in die staunenden Kinderaugen und hörte die Eltern flüstern: „So ein schönes Tannenbäumchen hatten wir noch niemals in unserem ganzen Leben!“ Da war mir klar, dass ich endlich meinen Platz gefunden hatte und aus einer hässlichen Tanne auch ein wunderbarer Weihnachtsbaum werden konnte.

 

 

Die Farben der Weihnachtszeit

von

Edgar Dembeck

 

Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr 2009. Mögen Ihre Wünsche und Erwartungen für das kommende Jahr in Erfüllung gehen!!!

 

 

Ihr Dietmar Ahle